Was ist eigentlich Autismus?

Im Anhang ihres wunderbaren Kinderbuches Mia – meine ganz besondere Freundin beschreibt Autorin Dagmar Eiken-Lüchau, was Autismus eigentlich ist. Weil er Kinder und Erwachsene hilfreich informiert, geben wir diesen Text hier gerne vollständig wieder:

Den Autisten gibt es nicht

Wenn du einen Autisten kennst, kennst du auch nur einen Autisten, denn jeder Autist kann andere Dinge und hat mit anderen Dingen Schwierigkeiten.

Früher hat man oft unterschieden zwischen Frühkindlichem Autismus (der vor dem dritten Lebensjahr festgestellt wurde), Asperger-Autismus (wurde erst nach dem dritten Lebensjahr festgestellt, häufig sogar erst im Schulalter oder viel später, aufgrund sozialer Schwierigkeiten) und Atypischem Autismus. Doch da die Symptomatik oft sehr unterschiedlich ist, fasst man nun alle drei verschiedenen Gruppen zusammen und spricht von Autismus-Spektrum-Störung (ASS).

Manche Autisten mögen es gar nicht, berührt zu werden. Andere brauchen ganz viele Kuscheleinheiten. Fast alle Autisten schauen einem nicht in die Augen. Bei einigen sieht es so aus, als könnten sie einen kurz ansehen, in Wirklichkeit blicken sie aber auf einen Punkt zwischen den Augenbrauen.

Einige Autisten sind besonders intelligent und davon wiederum ein paar wenige sind absolute Genies. So gibt es zum Beispiel 50 Autisten in der Welt, die vielleicht 20 Sprachen sprechen, dafür aber keine Schleife binden können oder noch nie „Mama“ zu ihrer Mutter gesagt haben. Die Grenze zwischen Talent und Behinderung ist also recht schmal.

Autismus ist keine Krankheit

Man geht davon aus, dass die Gründe genetisch sind. Noch immer suchen Forscher nach den Gründen. Alle Autisten verbindet, dass man ihnen diese Besonderheit nicht ansieht. Aber inzwischen gibt es sehr gute Diagnostiken, so dass es einfacher als noch vor zehn oder 20 Jahren ist, diese Besonderheit zu erkennen. Außerdem gibt es heute Autismus-Zentren, wo Autisten Dinge lernen können, die sie besonders für den Alltag benötigen und die ihnen schwer fallen. Hier können sich auch die Eltern mit anderen Eltern austauschen.

Autisten reagieren sehr sensibel auf ihre Umwelt

Sie können durch Lärm und Hektik schnell überfordert werden. Ihre Sinneswahrnehmung ist oft so empfindlich, dass ihnen ein Streicheln vorkommen kann, als würden sie mit einer Drahtbürste gebürstet. Das Ticken einer Uhr kann ihnen so laut erscheinen, als würde jemand Schlagzeug spielen.

Stell dir vor, du gehst eure Straße entlang und unterhältst dich mit deiner Mama. Du hörst ihre Stimme direkt neben dir. Gleichzeitig riechst du ihr Parfüm und spürst die kleinen Steine unter deinen Schuhen und die Jacke, die an deinem Arm durch die Bewegung beim Gehen entlangstreicht. Das alles gleichzeitig zu spüren, kann schon recht anstrengend sein. Aber du kannst deiner Mama trotzdem zuhören, weil du dich auf sie konzentrieren und alles andere ausblenden kannst.

Ein Autist kann das nicht. Er nimmt oft alles gleichzeitig genauso stark wahr. Dazu kommt aber zum Beispiel noch die Wärme der Sonne in seinem Gesicht, die er auf der Haut spürt, die Mücken, die gerade an seinem Kopf vorbei fliegen, das Motorengeräusch des Autos, das ihn soeben überholt, und das Gedröhne des Rasenmähers von Herrn Peters, der am Ende der Straße seinen Rasen mäht. Die Vögel zwitschern – es sind vier oder fünf verschiedene Vögel, und jeder zwitschert anders … und … und … und …

Ein Autist kann das alles häufig nicht ausschalten. Er nimmt alles wahr: alle Geräusche kann er hören, alle Düfte riechen, alle Lichter und Bewegungen sehen, alle Berührungen und Reibungen fühlen … und das alles gleichzeitig und gleich stark. Stell dir vor, so wäre es auch bei dir. Sicher würde dir dann alles zu viel.

Wenn einem alles zu viel wird

Das passiert den Autisten in solchen Momenten dann auch regelmäßig. Es wird ihnen alles zu viel und sie beginnen zum Beispiel zu schreien oder zu weinen. Sie laufen im Kreis, wiegen sich hin und her oder klatschen in die Hände. Weil das mit der vielen Wahrnehmung so anstrengend ist, geschieht es auch oft, dass Autisten abschalten und gar nicht mehr reagieren. Sie scheinen gar keine Geräusche mehr wahrzunehmen – auch nicht das Rufen ihres Namens! Daher sagt man oft, dass Autisten „in ihrer eigenen Welt leben“. Und irgendwie stimmt das dann auch so.

Es gibt Autisten, die sprechen sehr gut und viel. Und es gibt Autisten, die nie sprechen lernen. Da gibt es Autisten, die nie in der Lage sind, selbständig zu arbeiten oder unabhängig zu leben. Andere können aber gut in einer speziell vorbereiteten Umgebung und mit Unterstützung zurechtkommen, und wieder andere sind sogar komplett unabhängig und kommen im Alltag gut alleine klar.

Autisten sehen aus wie du und ich

Wenn man nicht weiß, dass autistische Menschen wirklich große Schwierigkeiten im Leben haben, halten andere Personen sie schnell für arrogant oder komisch oder einfach nur schlecht erzogen. In Wirklichkeit aber geben Autisten jeden Tag ihr Bestes und wünschen sich einfach, so akzeptiert und gemocht zu werden, wie sie sind.

Wenn du also einen Autisten kennst oder irgendwann mal kennenlernst – dann versuche ihn richtig kennenzulernen und zu erfahren, was er mag und was ihm zu viel wird. Und auch wenn du gar nicht weißt, ob jemand Autist ist, er sich aber irgendwie besonders verhält, dann versuche die Person einfach zu akzeptieren, wie sie ist, und gehe respektvoll mit ihr um. Denn Respekt und Akzeptanz sind oft der Beginn einer ganz tollen Freundschaft!

Hier gibt es das Buch von Dagmar Eiken-Lüchau, aus dem auch die Bilder in diesem Beitrag stammen – sie sind von Tanja Husmann:

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