Ein Schulfest mit Folgen
Eigentlich halte ich mich für einen ziemlich vergesslichen Menschen und ich gebe zu, das hängt vielleicht ganz einfach mit meinem Alter zusammen. Wenn ich keinen Zettel zur Hand habe, gehen viele Gedanken schnell verloren … Manche Erlebnisse haben sich mir aber tief in die Erinnerung eingegraben. Weil sie bedeutsam sind. Weil sie mich tief beeinflusst und geprägt haben.
Ein solches Erlebnis war ein Fest in der Schule für Geistigbehinderte in Cuxhaven. Heute heißt die Schule natürlich – politisch korrekt – Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung, aber eigentlich heißt sie einfach Schule am Meer.
Wir waren jung, frisch verheiratet und meine Frau arbeitete als Erzieherin an dieser Schule. Eine kleine Schule mitten im wunderschönen Lotsenviertel Cuxhavens, also nur ein paar Meter vom Deich entfernt. (Heute platzt sie aus allen Nähten, bevölkert inzwischen zwei Standorte und freut sich auf den dringend nötigen Erweiterungsbau.)
Einige der Schüler entwickelten sich zu ernsthaften Konkurrenten für mich; meine Frau bekam ständig entsprechende Heiratsanträge (vielleicht sollten wir Männer uns von diesen unbeirrten Liebesäußerungen auch mal ein Scheibchen abschneiden und unseren Frauen einfach immer wieder sagen, wie unfassbar glücklich wir an ihrer Seite sind?). Und manchmal habe ich selbst einen kleinen Einblick in den Schulalltag bekommen.
So war es auch an diesem Fest, das ich besuchen durfte. Der Schulleiter sorgte mit seinem Akkordeon für die richtige Stimmung, ein Schüler mit Down-Syndrom hieß die Gäste so charmant und großherzig willkommen, wie es der nobelste Gastgeber nicht hinbekommt. Ich weiß gar nicht mehr, was wir eigentlich gefeiert haben. Aber ich erinnere mich, dass es mich unglaublich berührt hat, wie wir da zusammen waren. Es war einerseits ganz sichtbar, dass hier einige eher außergewöhnliche Typen den Abend genossen. Und andererseits spielte es so gar keine Rolle, jeder war einfach willkommen.
Und ich habe tief drinnen gefühlt: So müsste Kirche sein! Jeder ist willkommen. Keiner ist perfekt. Alles ist möglich. Keiner muss seine Schwächen verbergen. Weil ich in meiner Unvollkommenheit angenommen bin, kann ich dich auch annehmen. So, wie du bist.
So müsste unsere Gesellschaft sein! Was ein Mensch wert ist, lassen wir doch nicht durch seine Leistungsfähigkeit definieren, sondern wir feiern gemeinsam das Leben. Wir freuen uns an unserer Vielfalt, und dass wir einander ergänzen in unserer Unterschiedlichkeit. Die eine kann das, der andere eben das besser. Und wir brauchen einander.
Letztlich waren es Begegnungen wie diese, die es uns als Ehepaar später leicht gemacht haben, ein Kind mit Down-Syndrom zu adoptieren, und dann fünf Jahre später noch eins. Wir wussten: Die gehören dazu. Wir können von ihnen lernen. Gemeinsam schaffen wir das. Und was angeblich alles mal nicht gehen wird, ist nicht das erste, was uns interessiert.
Heute, über 19 Jahre später, bin ich dankbar. Für das Fest an der Schule am Meer. Und für unsere zwei Freaks, die uns manchmal ganz schön herausfordern und mir dann doch lachend zu verstehen geben, dass ich selbst vermutlich der schrägste Freak in unserer Familie bin …
Gerade heute ist der 3. Dezember. 1993 haben die Vereinten Nationen beschlossen, jährlich an diesem Datum an Menschen mit Behinderung und ihre Bedürfnisse zu denken (ein Feiertag der besonderen Art also). Das macht natürlich am meisten Sinn, wenn man persönlich Kontakt hat mit Menschen mit Behinderung. Viel Spaß dabei! Und Achtung, es könnte Ihr Leben auf den Kopf stellen …!