Krieg in Europa: Geht es vielleicht doch anders?
Gegen Gewalt hilft nur Gegengewalt. Diese verbreitete Logik prägt das politische Handeln in Kriegszeiten häufig unhinterfragt. Und natürlich stellt sich die Frage: Gibt es überhaupt funktionierende Alternativen?
Ja, meint Benjamin Isaak-Krauß und skizziert in diesem Artikel die Logik des gewaltfreien Widerstands und welche Handlungsmöglichkeiten sich daraus ergeben können.
Unbewaffnete Gruppen oder gar Einzelne blockieren Panzer. Tägliche Protestdemos in der ukrainischen Stadt Slavutych erkämpfen die Freilassung des Bürgermeisters und den Rückzug der russischen Armee. Weissrussische Eisenbahner verhindern Waffen- und Truppennachschub durch Sabotage an Gleisanlagen und Zügen.
In den öffentlichen und kirchlichen Debatten um Putins Krieg finden diese kreativen Formen gewaltfreier Verteidigung leider kaum Beachtung. Dabei erforschen Konfliktforscher wie Gene Sharp oder Erica Chenoweth schon seit Jahrzehnten die Logik zivilen Widerstands und zeigen, wie erfolgreich er trotz mangelnder Vorbereitung oft ist.
Wie könnte ein vorbereiteter Widerstand aussehen, der seine Ressourcen nicht in militärische Aufrüstung, sondern in gewaltfreie Wehrfähigkeit setzt?
Den Gegner schwächen
Zunächst gilt es, nicht auf einzelne Taktiken zu schauen, sondern die strategische Logik gewaltfreien Widerstands zu verstehen. Anders als vielfach behauptet, zielt gewaltfreier Widerstand nicht darauf, das Mitgefühl von Diktatoren zu wecken oder Unterdrücker zur Umkehr zu bewegen. Ziel ist, die Macht des Gegners zu schwächen, sodass dieser keinen Schaden mehr anrichten kann.
Dies impliziert eine andere Sicht auf Macht: Macht ist ein Verhältnis, jeder Herrscher braucht das Einvernehmen mit den Beherrschten. Es muss über Belohnung oder Strafe, aber auch den ideologischen Überbau immer wieder sichergestellt werden. Entziehen die Beherrschten ihr Einvernehmen und verweigern offen oder verdeckt die Zusammenarbeit, wird die Fähigkeit des Herrschers, seinen Willen durchzusetzen, eingeschränkt. Ohne Gehorsam ist der Herrscher machtlos. Selbst die Schwächsten haben also einen Weg zu kämpfen, solange ihre Arbeitskraft, ihr Wissen oder auch nur ihre Passivität für das System erforderlich sind.
Zudem ist „der Gegner“ kein monolithischer Block, sondern besteht aus einer Vielzahl von Personen und Gruppen mit je eigenen Interessen und Werten sowie offenen oder latenten Konflikten untereinander. Gewaltfreier Widerstand analysiert diese Zusammenhänge in den Säulen der Macht. Wo ist das schwächste Glied? Welche internen Konflikte können verschärft werden? Man denke hier an die Geschäftsinteressen der wirtschaftlichen Eliten. Die Unbeliebtheit des Kriegs bei den Rekruten. Kriegswichtige Sektoren, die durch gezielte Sabotage oder die Nicht-Kooperation schon kleiner Gruppen stillgelegt werden können.
Stärken des gewaltfreien Widerstands
Bis hier könnte die Analyse auch von Militärs geteilt werden. Allerdings hat gewaltfreier Widerstand einige wichtige Vorteile gegenüber konventionell militärischen Ansätzen:
- Teilhabe: Gewaltfreier Widerstand kann viel mehr Menschen beteiligen, als militärisches Handeln es kann; schon deshalb, weil er keine Waffen und weniger Ausbildung benötigt. Partizipation ist eine entscheidende Größe für Erfolg oder Misserfolg einer Bewegung.
- Innovation: Widerstand braucht viele und vielfältige Formen, um unvorhersehbar und unkontrollierbar zu bleiben und die Kosten einer Fortsetzung der Invasion weiter zu eskalieren, bis dem Herrscher nur eine Wahl bleibt: Rückzug oder den eigenen Sturz riskieren. Je mehr Menschen sich selbstmotiviert und freiwillig beteiligen, desto höher das Innovationspotential. Bewaffneter Kampf dagegen führt eher zu Hierarchien, zu Zentralisation von Macht und gleichbleibenden Taktiken.
- „backfire effect“: Repression kann strategisch genutzt werden, um Solidarisierung, Sanktionen durch dritte Parteien und gegebenenfalls sogar Rebellion in den Reihen des Gegners hervorzurufen. Höhere Partizipation erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder der Eliten oder Sicherheitskräfte selbst Teil des Widerstands werden, was sich gewalthemmend auswirkt.
Die Gewaltspirale durchbrechen
Ein konsequent gewaltfreier Zugang kann diese positive Dynamik noch steigern. Barbara Deming nannte dies die „zwei Hände der Gewaltfreiheit“. Eine Hand sagt Stopp: „Nein! Dieses Verhalten muss aufhören.“ Die andere Hand lädt ein: „Du, als Mensch, hast einen Platz in der Welt, für die wir streiten.“ Die Spannung zwischen beiden Händen setzt Menschen unter Druck und zeigt ihnen zugleich einen Ausweg, beispielsweise zu desertieren.
Je mehr Menschen diesen Schritt wagen, desto leichter wird es für andere, es ihnen gleichzutun. Jeder tote Soldat legitimiert als „Held“ die Fortsetzung der Gewalt. Umgekehrt ist jeder Deserteur ein lebendiger Beweis, dass es Alternativen gibt. Und er ermutigt frustrierte Kameraden, es ihm gleichzutun.
Historisch gesehen hat innermilitärischer Widerstand immer wieder eine entscheidende Rolle zur Beendigung von Kriegen gespielt, besonders im 1. Weltkrieg, aber auch im US-Vietnamkrieg. Offizielle Sicherheitsgarantien für russische Deserteure seitens der EU oder der Schweiz wären ein effektiver und gewaltfreier Weg, die Kriegsfähigkeit der russischen Armee zu schwächen. Gerade angesichts einsetzender gegenseitiger Verbitterung und Gräueltaten muss diese Intervention von neutralen dritten Parteien kommen.
George Lakey, ein weiterer Veteran gewaltfreien Widerstands, nennt diesen „das Schwert, das heilt“. Mir gefällt diese Metapher. Sie macht deutlich, dass es sich um einen Kampf handelt; aber einen Kampf, dessen Mittel und Zweck von der Vision eines gerechten Friedens und der Heilung bestimmt sind. Gewaltfreier Widerstand geschieht im Horizont einer gemeinsamen Zukunft für alle und hält diesen offen – inmitten der Gewaltspirale.
Was wir tun können
Der russische Angriff auf die Ukraine ist ein Schock, der scheinbare Gewissheiten ins Wanken bringt. Auch die Friedenskirchen in Westeuropa müssen sich ernsthaften Fragen stellen: Warum haben wir neben Nothilfe, Diplomatie und Versöhnungsarbeit so wenig in gewaltfreien Widerstand investiert?
Wir sollten den Menschen in der Ukraine nicht vorschreiben, wie sie sich zu verteidigen haben. Stattdessen sollten wir tun, was wir können, dem Krieg die Energie zu entziehen. Hier sehe ich drei gewaltfreie Hebel:
- Netzwerke gewaltfreien Handelns und strategischer Friedensarbeit (etwa das ökumenische Netzwerk Church & Peace) unterstützen. Dringend gebraucht wird auch Begleitarbeit, wie sie die Organisation Community Peacemaker Teams in Kolumbien, Nordirak oder Palästina leistet. Ihre Anwesenheit und Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen schützen dort engagierte Menschen.
- Deserteure unterstützen. Wie in den US-Kriegen in Irak und Afghanistan, als Mennoniten US-Soldaten halfen, den Kriegsdienst zu verweigern. Es müsste weniger öffentlich organisiert sein. Andere gehen hier schon voran, wie etwa der Verein Connection. Die Kirchen haben da als transnationales Netzwerk besondere Chancen und Verantwortung.
- Die eigene friedliche Wehrhaftigkeit erhöhen. Uns informieren, ausbilden, einüben und konkrete Erfahrungen in gewaltfreien Widerstand sammeln. Es gibt viele konkrete Orte und Bewegungen, wo der atomaren Vernichtungsdrohung oder dem fossilen „Weiter so“ entgegengetreten wird. Solches Engagement wäre beides: konfliktpräventiv und Vorbereitung auf kommende Konflikte.
Solche Ansätze können wir jetzt sofort und unverzüglich unterstützen, ohne auf die Regierung zu warten. Der Beginn und das weitere Handeln werden von einem Erfahrungs- und Erkenntnisprozess begleitet werden, der theologische Überzeugungen auf den Prüfstand stellen und erden wird.
Denn: „Selig sind, die Frieden stiften; sie werden Kinder Gottes genannt werden“ (Matthäus 5,9). Und „wenn wir auf etwas hoffen, was wir noch nicht sehen können, so hilft uns widerständige Geduld, darauf zu warten“ (Römer 8,25).
Dieser gekürzte und bearbeitete Beitrag erschien in voller Länge zuerst im Bienenberg Magazin. Wir danken für die freundlichen Genehmigung!
Benjamin Isaak-Krauß ist gemeinsam mit seiner Frau Rianna Pastor der Mennonitengemeinde Frankfurt und für das Deutsche Mennonitische Friedenskomitee im Vorstand der Community Peacemaker Teams. Er bloggt auf bennisblog.de.