Kein Platz in der Herberge?

Bald erleben wir wieder unzählige Krippenspiele, wo Josef und die hochschwangere Maria von genervten Gastwirten abgewiesen werden und nirgends Aufnahme finden. Doch die Fachwelt ist sich ziemlich einig: Statt in einem kalten dunklen Stall, sozusagen im Hinterhof, kam Jesus im Wohnbereich eines Hauses zur Welt. 

Timothy J. Geddert, Professor für Neues Testament, erläutert diese Beobachtung in seinem Buch Das immer wieder Neue Testament. Hier ein Auszug aus Kapitel 10 des Buches.

Neue Lektionen aus der Weihnachtsgeschichte

In der Lutherbibel wird die Geburt Jesu so beschrieben:

„Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge“ (Lk 2,7).

Dies scheint zu bedeuten, dass Maria und Josef in einem Stall unterkommen mussten, um Jesus auf die Welt zu bringen.

Der Forschung von Kenneth Bailey zufolge, die inzwischen von zahllosen Wissenschaftlern bestätigt wurde, entspricht diese Lesart allerdings weder der Bedeutung eines wichtigen griechischen Wortes (katalyma), noch der Kultur und den Bedingungen der damaligen Welt.

Laut Bailey suchten die Eltern von Jesus wahrscheinlich weder eine Herberge noch ein Hotel oder Gasthaus in Bethlehem. Die hätte es in so einem kleinen Ort höchstwahrscheinlich auch gar nicht gegeben. Die Geburt Jesu geschah auch nicht in einem Stall im Sinne eines extra Gebäudes für Tiere oder in einer Höhle, was hier und da vorgeschlagen wird.

Das Wort, das Lukas in Lukas 2,7 verwendet (katalyma), bedeutet nicht „Herberge“, sondern „Gästezimmer“. Und Gästezimmer wurden gewöhnlich oben auf dem flachen Dach eines normalen Hauses gebaut.

In der Neuen Genfer Übersetzung liest sich der Vers so:

„Sie legte ihn in eine Futterkrippe; denn sie hatten keinen Platz in der Unterkunft bekommen.“

Ich vermute, die Übersetzer waren mit der Forschung von Bailey vertraut. Noch besser wäre jedoch diese Übersetzung:

„Sie legte ihn in eine Futterkrippe, denn das Gästezimmer war schon besetzt.“

Es gibt zahlreiche Faktoren, die Bibelausleger (wie auch mich selbst) davon überzeugten, dass Lukas mit seiner Weihnachtsgeschichte etwas anderes sagen wollte, als das, was die Tradition überlieferte. Hier sind einige Fakten, die darauf hindeuten:

  • Jüdische Bauern des ersten Jahrhunderts hatten keine separaten Gebäude für ihre Tiere. In kalten Nächten brachten sie ihre Tiere direkt ins Haus.
  • Ihre Ein-Zimmer-Häuser wurden so gebaut, dass sie aus zwei Ebenen bestanden: einer höheren Ebene, auf der die Familie lebte, und einer niedrigeren, wo die Tiere untergebracht wurden. Oft gab es dann noch oben auf dem Dach einen zusätzlichen Raum für Gäste.
  • Am Rand des Wohnbereiches zum unteren Teil hin wurde in den Boden eine Krippe für Tiere eingelassen.
  • Das heißt: Krippen befanden sich innerhalb gewöhnlicher Häuser, und in eine solche wurde Jesus gelegt.
  • Bethlehem befand sich nicht an einer Handelsstraße und hatte deshalb fast sicher weder ein Gasthaus noch eine Herberge. Es war keine Stadt, wie wir den Begriff „Stadt“ verstehen, sondern ein einfaches Bauerndorf.
  • Selbst wenn es eine Herberge gegeben hätte, hätten Josef und Maria sicherlich keine aufgesucht. Josef war ein gebürtiger Sohn des Dorfes, und Maria hatte Verwandte im naheliegenden Hügelland. Das Ehepaar wäre bestimmt zu Verwandten und Freunden gegangen.
  • Lukas zufolge taten sie dies auch, aber dort, wo sie landeten, war das Gästezimmer (das katalyma) schon von anderen Verwandten oder Freunden besetzt. Also wurden sie direkt ins Haus gebracht und Maria legte das Kind dann in eine Krippe.

Welchen Unterschied machen diese kulturellen Hintergründe? Sie bedeuten, dass Lukas nicht sagen wollte, dass alle Gasthäuser voll waren und dass das Paar sein Baby deshalb alleine in einem kalten, dunklen Stall zur Welt bringen musste. Lukas wollte eher sagen, dass Josef und Maria von einer gastfreundlichen Familie aufgenommen und direkt in den Wohnbereich gebracht wurden.

Und so wird die Liste der Glaubenshelden in der Weihnachtsgeschichte im Lukasevangelium noch um ein weiteres Glied erweitert:

  • Da ist Maria, die sich bereit erklärte, Gottes Dienerin zu sein, koste es, was es wolle.
  • Da ist Elisabeth, die vorhersagte, dass Marias ungeborener Sohn der Herr, ihr Herr, sei.
  • Da ist Josef, der bereit war, Maria unter diesen ungewöhnlichen Umständen zur Frau zu nehmen.
  • Da sind die glaubenden Hirten, die losliefen, um den von den Engeln verkündigten Retter zu sehen, und die dann mit Begeisterung die gute Nachricht weitersagten.
  • Und zu dieser Liste gehört auch noch eine ungenannte Familie, die bereit war, im Trubel der Volkszählung Platz für Jesus zu machen, obwohl ihr Haus schon voller Gäste war.

In dieser Geschichte wird nicht berichtet, wie Jesus abgelehnt wurde, sondern wie er von einfachen Menschen aufgenommen wurde. Welch ein Vorbild diese gastfreundliche Familie für uns ist! Und hierin liegt auch die Lektion für uns: Wir sind aufgefordert, Jesus Raum zu geben, und zwar immer und immer wieder, sogar im Trubel der Weihnachtszeit und auch dann, wenn das Haus schon voller Gäste ist.

Perlen für Bibelleserinnen und -leser

Soweit der Buchauszug. – Wenn Sie manchmal Überraschungen beim Lesen der Bibel vermissen oder wenn Sie sich fragen, wie Ihre Gemeinde neu Lust am Bibellesen bekommen könnte – dann hält Tim Gedderts Buch kostbare Perlen für Sie bereit!

In diesem Video (3:43) erzählt er etwas zur Entstehungsgeschichte. Zum Beispiel, dass die Beobachtung eines 13-Jährigen seine Doktorarbeit zum Markus-Evangelium wesentlich beeinflusste …

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