Geschichten vom „richtigen“ Weihnachtsfest

Hanna Schott über die Weihnachtsgeschichten von André Trocmé

Von Januar bis November gilt: Neu ist immer besser. Das neue Jahr verspricht neue, gute Erfahrungen. Das neue Auto fährt besser als das alte. Der neue Computer ist schneller als der alte. Und am neuen Urlaubsort kann man ganz neue Dinge unternehmen.

Nur im Dezember, wenn es auf Weihnachten zugeht, wollen wir nichts Neues hören, einführen oder ausprobieren. Wir singen die alten Lieder, hören die alten Geschichten, pflegen die alten Bräuche, und das beste Weihnachtsgebäck ist ohne Zweifel das nach einem ganz alten Rezept hergestellte.

Warum ist das so? Warum sind wir das ganze Jahr fortschrittsfreudig, und doch verwandeln sich die meisten von uns an Weihnachten in unverbesserliche Romantiker und Nostalgiker?

Weihnachten ist ein Gefühl, ein Duft, eine Stimmung. Wer das nicht glaubt, der verbringe das Weihnachtsfest einmal in der afrikanischen Steppe oder am australischen Strand: Er wird es „kein bisschen weihnachtlich“ finden, selbst wenn er einen Gottesdienst besucht und Geschenke macht und bekommt. Auch den, der überzeugt ist, dass die Geburt Christi für ihn das Zentrum des Festes ist, und der weiß, dass der Stall von Bethlehem sicher nicht verschneit und lauschig war, stören Hitze und Strandpartys.

Was also ist das „richtige“ Weihnachten? Diese Geschichten möchte auf ihre Art eine Antwort auf diese Frage geben. André Trocmé, der sie erzählt und später aufgeschrieben hat, stellte sich diese Frage nämlich jedes Jahr neu: Wie sollen wir hier Weihnachten feiern? Sein Hier war ganz anders als das unsere, aber seine Antworten sind heute noch gültig.

Ein außergewöhnliches Paar

André Pascal Trocmé (1901–1971) wurde im Nordosten Frankreichs geboren. Sein Vater Paul, ein Industrieller, war ein streng reformierter Christ. Andrés Mutter Paula war Deutsche, aber Spross einer hugenottischen Familie. Als der Junge zehn Jahre alt war, starb sie vor den Augen ihres Sohnes bei einem Autounfall.

Als André sechzehn war, zogen deutsche Truppen in seine Heimat ein und zerstörten die Fabrik des Vaters. Dieses Erlebnis und das Wissen, dass auch seine Cousins deutsche Soldaten waren, ließen den Jugendlichen zu einem überzeugten Pazifisten werden.

André Trocmé studierte Theologie in Paris und New York. Dort erhielt er eine Stelle als Französischlehrer bei John D. Rockefeller jun. (1839–1937), einem der reichsten Männer der Welt. In New York lernte er auch die Studentin Magda Grilli di Cortona (1901–1996) kennen, die ein Jahr später seine Frau wurde. Sie war als Tochter eines italienischen Obersts in Florenz aufgewachsen, entstammte jedoch mütterlicherseits einem russischen Adelsgeschlecht – die streng reformierte Welt ihres Mannes lernte sie erst kennen, als die beiden nach Frankreich zogen. Dass ihre Ehe vermutlich keine „ganz normale Ehe“ werden würde, hatte sie schon in New York geahnt.

„Ich werde ein protestantischer Pfarrer sein, und ich möchte ein Leben in Armut führen. Ich bin Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen, und das kann Gefängnis und viele andere Schwierigkeiten mit sich bringen“,

hatte André ihr klipp und klar gesagt.

Oase der Menschlichkeit

Nach zwei Pfarrstellen in Industriestädten nahe der belgischen Grenze – hier wurden die vier Kinder der Trocmés geboren – wurde André 1934 Pastor der reformierten Gemeinde in Le Chambon-sur-Lignon, einem Dorf und kleinen Kurort in der südlichen Auvergne. Und hier, in den zwölf Ortschaften der Hochebene, wurde aus einer entlegenen Gegend des Zentralmassivs nicht allein, aber vor allem durch das Wirken von Magda und André Trocmé eine Oase der Menschlichkeit. Wer immer in dem von den Nazis besetzten nördlichen Teil Frankreichs oder in dem von Pétain regierten Süden auf der Flucht war, konnte auf Hilfe zählen: Die etwa 9000 Einwohner versteckten die Verfolgten in ihren eigenen Häusern, manchmal jahrelang, verhalfen im Lauf der Zeit fast 5000 Menschen zu Papieren oder schleusten sie über die Schweizer Grenze in Sicherheit.

Die Trocmés als Zentrum des Widerstandsdorfes kooperierten mit Hilfsorganisationen, um Kinder und Jugendliche aus den Internierungslagern Rivesaltes und Gurs bei Perpignan – der letzten Station auf dem Weg nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager – herauszuholen. In Le Chambon-sur-Lignon hatte es seit jeher Kinder-Erholungsheime gegeben; jetzt fanden jüdische Kinder und Jugendliche hier Zuflucht vor dem Abtransport in den sicheren Tod. Wer besonders gefährdet war, wurde, wenn eine Razzia drohte, auf Höfen der Umgebung versteckt oder verschwand mit gefälschten Papieren.

Geschichtenerzähler

Und an dieser Stelle kommt Weihnachten ins Spiel: Sowohl Magda als auch André waren sprachbegabt und liebten das Erzählen und Schreiben. Gerade an Weihnachten ließ André es sich deshalb nicht nehmen, über die biblische Weihnachtsgeschichte hinaus eine eigene Geschichte zu erzählen, meist zunächst für die in der Kirche versammelten Kinder, dann aber auch für alle im Dorf. Denn die Geschichte von Maria und Josef, zwei Menschen ohne Dach über dem Kopf und mit einem zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt geborenen Kind, rückte dem, was in Le Chambon geschah, immer näher. Wer war bereit, solche Menschen aufzunehmen? Wer sah im Hungernden und Dürstenden nicht nur den Nächsten, sondern vielleicht sogar Christus selbst? Wer erkannte, dass das Christentum im Judentum wurzelt, dass also die Juden „die älteren Brüder und Schwestern“ der Christen sind?

Es wird ungemütlich

André Trocmés Geschichten sind „richtige“ Weihnachtsgeschichten: Geschichten, die anrühren und durchaus eine „klassische“ weihnachtliche Stimmung erzeugen. Aber sie sind bei aller heimeligen Atmosphäre gleichzeitig äußerst ungemütlich, denn sie wurden mit einem klaren Ziel erzählt: Sie sollten den Bewohnern von Le Chambon zeigen, wo die Spuren des „Christkindes“ in ihrer Gegenwart zu entdecken waren. Und diese Fähigkeit haben sie sich bis heute und auch für uns erhalten.

Für Versöhnung leben

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Le Chambon-sur-Lignon der erste Ort in Frankreich, der deutsche Studenten zu deutsch-französischen Begegnungen einlud. Bis 1960 engagierte André Trocmé sich als Sekretär des Internationalen Versöhnungsbundes und war außerdem Mitinitiator des ökumenischen Freiwilligendienstes Eirene. Die Trocmés reisten um die Welt und knüpften überall Kontakte zu Menschen, die wie sie kompromisslos dem Frieden dienen wollten. Auch nach Andrés Tod 1971 ging Magda weiter auf Reisen und begegnete unter anderem Martin Luther King und Indira Gandhi. In den USA erhielt sie die Ehrendoktorwürde – zusammen mit Rosa Parks, der Frau, die am Beginn der Bürgerrechtsbewegung stand, weil sie sich weigerte, ihren Platz im Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen. Heute werden sie und André zusammen mit der ganzen Region um Le Chambon-sur-Lignon als „Gerechte unter den Völkern“ in Yad Vashem geehrt.

Es kann nämlich viel verändern, wenn man Weihnachten „richtig“ feiert.

Hanna Schott

In diesem Bestseller sind 13 Geschichten von André Trocmé enthalten (übersetzt aus dem französischen Original):

 

Für den Folgeband hat Hanna Schott 9 weitere Geschichten ausgewählt und ins Deutsche übersetzt. :

 

Hanna Schott hat außerdem eine spannende Biografie über das filmreife Leben von Magda und André Trocmé geschrieben: